Share your experience!
Hallo zusammen,
endlich waren sie da, die ersten richtig heißen Tage des Jahres. Ein wenig erschöpft sitze ich am PC und suche mir ein Bild aus zum Besprechen. In dieser Stimmung fällt mir besonders "Die Frau im Bad" von "Hobbyfotograf" auf.
(Bild 1)Ein kühles Bild. Eines das Bilanz zieht. Fragen stellt. Die Antworten muss sich jeder Betrachter selbst geben.
Aber von Vorne:
Es ist ein Portraitfoto. Es zeigt das Gesicht einer Frau mittleren Alters, die sich im Spiegel betrachtet. Sie befindet sich in einem Badezimmer, die Armaturen sind verschwommen im Unschärfebereich zu erkennen. Ist es im heimischen Bad? Oder in einem Hotelzimmer? Man kann es nicht sicher sagen. Die Farben des Zimmers sind eher grau und unfreundlich. Die Frau ist hart von der Seite angeleuchtet, ein konturierendes Licht, das heftige Schatten erzeugt auf der Nase und unter dem Auge und einen Lichtschimmer in den Haaren bildet. Das Gesicht ist vollständig in der Schärfeebene, sauber vor dem Hintergrund freigestellt. In den Augen gibt es ein paar Lichtreflexe der Badbeleuchtung. Das Gesicht ist rechts von der Mitte nach allen Regeln der klassischen Bildgestaltung positioniert. Die dunklen und hellen Linien der Duschkabine im Hintergrund laufen aus dem Winkel, - ein paar Grad nur, aber sichtbar und sich störend in die Wahrnehmungsebene schiebend, einen Eindruck wie ein Schnappschuss hinterlassend.
So weit so gut, - ein klassisches Portrait. Aber dieses Foto ist weit mehr.
Es ist auch eine Charakterstudie und wirft Lebensfragen auf:
Es wurde hart belichtet und konsequent auf jegliche Beschönigen verzichtet.
Kein freundliches helles Wohlfühlbad sondern eine graugrüne Nasszelle, die man schnell wieder verlassen möchte. Und doch steht da ruhig diese Frau und betrachtet sich im Spiegel. Sie zieht die Brauen nach oben, was ihr einen leicht fragenden Eindruck gibt. Fragend ist das Schlüsselwort zu diesem Foto.
Sieht ihre strubbeligen Haare, nicht frisiert, in Strähnen abstehend, mit den grauen Haaren dazwischen.
Sieht ihre Stirn, die sich durch das leichte Brauenheben in tiefe Falten legt.
Sieht ihre Haut, keine glatte Babyhaut mehr. Ein paar leichte Sommersprossen, ein paar grobe Poren, ein paar kleine Fältchen sind zu sehen, eine raue Struktur schaffend.
Sie sieht ihren Mund, eine volle Unterlippe, eine schmalere Oberlippe, zusammengepresst, einen leichten Bogen nach unten bildend. Nicht mehr freundlich lächeln müssend, weil ihr Chef das für Kundenfreundlichkeit hält. Nicht mehr Fröhlichkeit spielend, weil der Mann schon genügend eigene Probleme hat, und von ihren nichts wissen will. Ist es Bitterkeit? - Ist es Resignation? Nein eher ein Moment der tiefen Ehrlichkeit sich selbst gegenüber.
Sie sieht sich in die Augen. Hier findet sich der einzige Hinweis auf ein Makeup, blauer Lidschatten auf dem Oberlid und ein dünner Streifen in der selben Farbe am unteren Lid., Durch das harte Licht von der Seite bekommen die Augen kaum Licht, dunkel und glanzlos schauen sie in den Spiegel in das eigene Gesicht.
Es ist ein schonungsloser Blick, kein schnelles Weggucken, wie man es von sich selber kennt, wenn die letzte Nacht mal wieder kürzer war wie geplant, weil die Feier so toll war und lauter nette Leute einen erst am frühen Morgen gehen ließen.
Nein, dieser Blick ist ein Innehalten, ein Stop, eine Zäsur, ein Nein - nicht- mehr - weiter - so!
Dieser Blick hört auf mit dem frommen Selbstbetrug des Alltags.
Will Antworten haben auf viele essentielle Fragen des Lebens:
Das bin ich, will ich so sein?
Kann ich mich so annehmen, mich akzeptieren so wie ich bin, so wie mich der Spiegel zeigt?
Liebe ich mich? Werde ich geliebt? Bin ich schön? Bin ich attraktiv?
Möchte ich, dass die Menschen mich so sehen? Authentisch!? Echt!!?
Oder bin ich schon die Maske geworden, die ich sonst trage, wenn ich geschminkt bin. Wenn ich Fröhlichkeit zeige?
Ich kann nur spekulieren, welchen Grund es für dieses Innehalten gibt.
Aufgewacht im Hotel, nach der ersten Nacht mit einer neuen Liebe?
Angekommen im Bad, nach einer langen Feier?
Die 10.000ste Nacht neben einen Mann, der einem fremd geworden ist, und dann die Frage: Ist dass das Leben?
Ich weiß es nicht, aber das Leben wird ein anderes sein, nach diesem Moment.
Weil er Antworten gegeben hat, so oder so.
Mich fasziniert dieses Foto umso mehr, je länger ich es anschaue. Es ist ein Portrait. Eine Frau im Bad. Ein Foto wie ein Schnappschuss. Aber was für ein Foto!
LG
Henry
Lieber Henry,
super, dass es eines meiner Fotos in Deine Bildbesprechung geschafft hat. Das hat Doro, meine Liebste, die als „Model“ fungiert hat, und mich sehr gefreut.
Leider habe ich die Besprechung erst jetzt registriert, da ich momentan beruflich sehr eingespannt bin und mich deshalb hier etwas rar machen muss.
Zum Inhalt Deiner Besprechung: Du hast in den wesentlichen Punkten und in einer wirklich schönen und bildhaften Sprache beschrieben, was wir mit dem Foto tatsächlich ausdrücken wollten. Unser Plan scheint also geklappt zu haben!
Zur Umsetzung: Doro hatte sich selber „gestylt“ und ihre liebe Mühe damit. Ist offenbar gar nicht so einfach für eine Frau, sich entgegen aller Gewohnheiten das Make-up schräg und falsch aufzutragen und die Haare mittels Unmengen Haargel in einen Besen zu verwandeln. Ansonsten hatten wir unser Bad teilweise leergeräumt, um die kühle Atmosphäre zu unterstreichen.
Zur Technik selber: links von Doro, etwa in Hüfthöhe, hatte ich meinen Metzblitz postiert und ansonsten das vorhandene Licht genutzt, wobei wir das Shooting abends gemacht haben. Fotografiert wurde über den zum Glück vorhandenen riesigen Wandspiegel,wobei ich mich links hinter Doropostiert hatte. Zu dem schrägen Linienverlauf im Hintergrund hatte ich auch einige Varianten ausprobiert, bei denen die Linien in der Nachbearbeitung gerade gerückt wurden, aber irgendwie machte das die Bildwirkung kaputt.
Bin mal gespannt, ob es noch einige weitere Kommentare zu dem Foto gibt. Wenn ich wieder etwas mehr Zeit habe, werde ich noch das eine oder andere Bild aus der Serie online stellen.
Schöne Grüße
Michael
Hallo Michael
Danke dir, - wenigstens eine Rückmeldung!
Ich habe mich mit der Interpretation ja schon ein wenig "weit aus dem Fenster gelehnt" wie man so sagt. Normalerweise kann ich mich auf mein Bildgefühl verlassen, aber was, wenn ich deneben gelegen hätte, - der Schaden wäre wohl nicht mehr gutzumachen gewesen! Deine Rückmedung entspannt mich doch ein wenig.
Doro ist eine mutige Frau, - ich kenne nicht viele, die mich bei so einer Bildidee unterstützt hätten! Grüß sie von mir und sag ihr, sie hat einen Kaffee gut bei mir! (Ich habe ihr letzte Woche während des Schreibens der Besprechung zwei Stunden auf meinen 24 Zöller vergrößert tief in die Augen geschaut, ich kenne jetzt jede kleine Pore und jede kleine Falte beim Vornamen!)
Nochmal zum Bild: ich kann mir gut vorstellen, das gerade Linien den Foto die spontane Schnappschußstimmung genommen hätte, - die macht ja einen großen Teil der Wirkung aus.
Auf weitere Bilder aus der Serie bin ich sehr neugierig!
LG
Henry
Hallo Henry !
Zunächst mal muss ich ich "entschuldigen" - die letzten Wochen waren für mich etwas viel stressig. Leider besteht das Leben auch aus Arbeit und nicht nur aus "dumm herumknipsen" und dem Club Sonus 😞
Hab' hier nur ein wenig gelesen und das war's - dann bin ich halbtot ins Bett gefallen ... Nicht zuletzt deshalb, weil ich Dank 5 Wochen altem Mietzekatzennachwuchs auch ziemlich kurze Nächte habe.
Dachte mir schon, der Thread wäre gesperrt, weil keine Antwort gekommen ist. Aber heute hab' ich gesehen, dass sich da doch "was tut" ....
Deine Rezession des Bildes ist sicherlich eine der Besten (und auch "härtesten"), die ich je gelesen habe. Ich denke es kaum jemanden, dem nicht solche Gedanken durch den Kopf gehen, wenn er das Bild betrachtet. Du hast all das, wonach viele beim Betrachten suchen, "mühsam" in Worte gefasst und wiedergegeben. Vorausgesetzt natürlich dass man sich das Bild wirklich ansieht und darüber "nachdenkt" bzw. es auf sich wirken lässt. Beinahe verständlicherweise hat auch kaum jemand den Mut etwas dazu zu schreiben - ist die Rezession doch eine ziemliche Entblössung psychischer Natur (viel schlimmer, als wenn das Modell völlig nackt wäre). Aber sie ist doch ziemlich realitätsnah und alles im Bereich des möglichen ... Aber wie Du selbst schreibst "Du hässtest Dich weit aus dem Fenster gelehnt" .....
Ich finde es eigentlich schade, zumal die Bildbesprechung (wenn ich mich richtig entsinne) Teil des letzten Newsletters war und bis dato überhaupt keine Reaktion erfolgt ist. Aber ich hoffe, Du gibst trotzdem nicht auf 🙂
Achja, zum Bild selber:
Obwohl ich keine Ahnung habe von Portraitfotografie - unheimlich interessantes Bild, das ich mir länger angeschaut habe, vieles auch hineininterpretiert habe, mir Gedanken gemacht habe (aber zugegebenermassen zu feige war, sie von mir zu geben) . Absolut Top - ein Bild mit unheimlich viel Aussage.
Im Grunde genommen ein Bild mit Seltenheitswert - selten so gut, selten ein Bild, das man so lange betrachten kann und so vieles hineininterpretieren kann, und ..... ,und wie üblich: Bilder mit wirklicher Aussage werden hier nicht (oder kaum) beachtet .....
In diesem Sinne - Glückwunsch an den Fotografen und Glückwunsch an Dich, Henry für den vortrefflichen Kommentar !
liebe Grüsse, dieter
Ich bin auch auf weitere Bilder aus der Serie gespannt. Ich finde auch diesmal Deine Bildbesprechung äußerst fundiert und interessant und kann fast allem zustimmen, was mich allerdings von Anfang an bei dem Bild etwas störte ist der starke Kontrast auf der Nase.
Solche Porträts finde ich jedenfalls viel interessanter, als die charakterlosen photo vershopten beauty Retuschen mit dem Schärfepunkt auf dem Auge!
VG GFS
Ich hab leider erst die Bildrezension von dir gelesen, und dann das Bild angschaut. Ein Fehler. So hab ich immer nur deine Erklärung im Hinterkopf und weiß nicht, was ich gedacht hätte.
Macht nicht, ich kann es dir sagen: "Bedeutungsloser Schnappschuß, voll neben der Kappe"
Nur auf sächsisch....
;-))
LG
henry